Rollenspieler sind ein eigenwilliges Völkchen. Manche verkriechen sich des abends in dunkle Keller, sitzen bei Kerzenlicht und echtem Met eng aufeinander und erleiden fast einen Hitze- oder Erstickungstod - der Stimmung wegen halte ich diese für die Gesundheit auf lange Sicht abträgliche Versammlungsform allerdings für durchaus vertretbar. Andere kommen mit Unmengen buntem Blubberwasser und schön blinkenden und knisternden Tüten voller leerer, salzhaltiger, lautstarker Kalorien in Scheibchenform zusammen, um sich alsdann mit partyähnlichem Gebaren in die Schlacht gegen Kriminelle, unverstandene Magier, Dämonen und Drachen (Dunkelzahn lebt!) zu stürzen.

Ob der Gruß nun "Hoi Chummers" oder "Praios zum Gruße" lauten mag, ist letztendlich egal.

Das Internet bildet ja nun die Perfekte Plattform für Austausch und Infos im Rollenspielbereich. Jeder renommierte Verlag hat seine Page und neue Privat-Rollenspiele Marke Eigenbau finden sich Gigabyteweise im Netz. CHRESTONIM macht sich das Internet allerdings auf ganz besondere Art und Weise zu nutzen.

 

Falsch! Keine Mail-Abenteuer. Sie mögen zwar eine nette Art des Zeitvertreibs sein, aber sie spielen sich meist so wie Solo-Abenteuerbücher. (Haben Sie die pösen Purchen in die Flucht geschlagen, lesen Sie bitte Abschnitt Nr. 1375! Wenn Sie dabei gestorben sind, dann fangen sie bei Abschnitt 1 neu an.) Großartige Möglichkeiten des Eingreifens in die Handlung gibt es nur selten.

Trotzdem benutzt das Prinzip von CHRESTONIM Mails als Grundlage. Es ist insofern mit einer Art Briefspiel vergleichbar.

Schon mal was von "Lehensvergabe" gehört? Manche Fantasy-Systeme machen so etwas, so auch z.B. DSA. Bei Ausschreibungen wurden dabei Baronstitel mit dazugehörigen Ländereien vergeben. Sicher, welcher DSAler hätte nicht gerne ein Stück Aventurien, das von der heiligen Runde der erhabenen DSA-Autoren sogar offiziell anerkannt ist. Anfangs ist die Freude groß, man lädt sich ein zu Bällen bei den lieben Nachbarn, man bestreitet Turniere, man betreibt Korrespondenz, verheiratet sich untereinander etc. Doch nur allzu schnell kehrt die Ernüchterung ein. Kaum will man etwas größere Schritte tun, etwas bewegen, wirklich auf die Politik des Landes einwirken - keine Chance! Die Fantasy-Welten sind erstarrt. Schnell hält der Frust Einzug. Die Redakteure können und wollen nicht auf die Wünsche der Spieler eingehen. Schließlich kann man nicht jeden Monat ein neues Quellenbuch über das Reich herausgeben. Oder noch deutlicher gesagt: Die lieben Götter dort oben in den Redaktionsstuben denken nicht daran, sich in ihr Handwerk pfuschen zu lassen. CHRESTONIM ist da anders - es ist frei.

 

Das trifft es noch am ehesten.

Der CHRESTONIM-Spieler spielt eine Rolle - einen Bewohner dieser besonderen Dschungelwelt. Er ist ein Bürger des stolzen Estichà, einer Stadt, die den diplomatischen und wirtschaftlichen Dreh- und Angelpunkt Chrestonims bildet. Aber er ist nicht nur einfach ein Bürger, er kann Ratsherr sein, oberster Richter, Großhändler, Hohepriester, Untergrundkämpfer, Schwerverbrecher, Pirat, Botschafter, Erkunder - er kann alles sein, was er will. Vorausgesetzt er ist klever genug. Klarerweise ist nicht nur er scharf auf einen Sitz im Hohen Rat. Mehrere Dutzend anderer Spieler sind es auch - und die haben eventuell Beziehungen, die ganz schön Ärger machen können. Man muß nur den Namen des Spielers kennen, der derzeit den Untergrund beherrscht. Vielleicht helfen Bestechungsgelder an den Spielhöllenbesitzer? Tja, woher das Geld nehmen? Das eigene Handelshaus hat ja dummerweise Konkurrenz bekommen, die sich mit dem Botschafter von Vorovis gutgestellt hat. Vielleicht wenn man mit ein wenig Piraterie nachhelfen könnte: man munkelt ja, daß ein gewisser Spieler jemanden kennen soll, der...

Das System trägt sich selbst. Hinter fast jedem Namen der Stadt steht ein Spieler, der natürlich sein ganz eigenes, gemeines Süppchen kocht - oder einfach nur versucht, Geld zu scheffeln. Reich zu werden ist eigentlich kein Problem; wenn man die richtigen Leute kennt.

Das schöne an dem Ganzen ist, daß es keine Grenzen gibt. JEDER Spieler hat die Möglichkeit, aus seinem Charakter zu machen, was er will. Er kann Herrscher werden, er kann einen Krieg vom Zaune brechen. Die "Redaktion" wird sich nicht einmischen. Sie kontrolliert nur die korrekte Abwicklung der Finanzen und der Rohstofflieferung sowie den Zeitablauf und die Naturgewalten. Die Politik, die Intrigen, die Attentate - alles in Spielerhand und nicht kontrolliert.

Wer erfolgreich ist, dem winken Ruhm und Ehre. Strahlend an der Spitze des Landes zu stehen. Oder vielleicht auf eine andere Art und Weise herrschen? Wer kommt schon auf die Idee, daß der gütig dreinblickende Besitzer des kleinen Handelskontors an der Ecke in Wahrheit der gefürchtetste Chef des Untergrundes ist und 50% der Ratsherren durch Erpressung in seiner Gewalt hat? Doch Vorsicht: die allgegenwärtige - und vor allem zahlreiche - Konkurrenz schläft nicht.

 

Der Erfolg des Systems spricht für sich selbst. Gerade die Dynamik und die zahlreichen Miteiferer um welchen Posten auch immer im korrupten Staate machen CHRESTONIM zu einen Dauerbrenner, der einen nicht mehr losläßt.

Wilko Mattern